Die Geschichte eines der ältesten europäischen Musikfestivals
Der Anfang
„Dieses Musikfest ist nicht als Ereignis um seiner selbst willen, sondern vor allem als Anregung gedacht. Die Auswahl der Werke, die Verknüpfung lebendiger Vergangenheit mit zeitgenössischem Schaffen, das Bemühen um stilechte und vorbildliche Wiedergabe, das Einbeziehen der Teilnehmer durch aktives Hören und eigenes Singen, die Einführungen in neue Musik – all dies sollte den Besuchern zum Vorbild dienen für ihr eigenes Singen und Spielen, soll sie anregen, auch in der Musik wieder vom bloßen Genießen zu eigenem Urteil und zum Mitgestalten zu kommen.
Mit diesem „Aufruf“ lud der „Arbeitskreis für Hausmusik“, kurz AfH, im Herbst 1933 Kassels Bürger zu den ersten KASSELER MUSIKTAGEN ein. Es ging nicht nur um ein neues Musikfest, auch sein Organisationskreis hatte sich im gleichen Jahr erst gegründet. Er wollte die Arbeit des kurz zuvor "gleichgeschalteten" "Finkensteiner Bundes" weiterführen. Der war wiederum 1924 vom sudetendeutschen Volksliedforscher und Musikpädagogen Walther Hensel ins Leben gerufen. Ziel war die Bewahrung und weitere Erforschung des deutschen Volksliedes und dazu die möglichst umfassende Verbreitung von Liedern und Chören in allen Volksschichten mit Singschulen und Singwochen. Unter den Gründungsmitgliedern war damals auch ein junger, umtriebiger Augsburger Musikverleger, der sich persönlich sehr für diese breite musikalische Volksbildung engagierte und offizieller Verleger des "Bundes", seiner Zeitschriften und Liedersammlungen wurde.
Sein Name: Karl Vötterle, Gründer und jahrzehntelanger Leiter des Bärenreiter-Verlags, den er 1927 von Augsburg nach Kassel verlegt und nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem der wichtigsten internationalen Musikverlage gemacht hatte. Dieses Ideal einer großen deutschen "Singbewegung", dass Musik nicht nur Konsum, sondern eigenes Gestalten sei, war Sinn und Zweck des AfH und ist ein Fundament der KASSELER MUSIKTAGE (kurz: KMT). Aber nicht ihr einziges.
Denn mindestens ebenso sehr war der evangelische Christ Vötterle engagierter Förderer einer lebendigen Kirchenmusik. Die damals wiederentdeckten Werke von Heinrich Schütz, dessen Kasseler Wirken 1929 zur Gründung der Heinrich Schütz-Gesellschaft geführt hatte, gaben der sich eben etablierenden Erneuerungsbewegung der evangelischen Kirchenmusik entscheidende Anregungen. Diese Bewegung kam Vötterle und seinen Mitinitiatoren der KMT wie gerufen, und Werke von Hugo Distler, Ernst Pepping, Helmut Bornefeld und vielen anderen waren bis in die sechziger Jahre fester Bestandteil der geistlichen Konzerte bei den MUSIKTAGEN. Schütz, Bach, Händel, englische Renaissance- und Barockmusik waren dagegen die "alten" Stützen der Programme. Außerdem gehörten ebenso Haus- und Kammermusik bis Mozart und Beethoven, "Offenes Singen" und "Offenes Tanzen" dazu wie evangelische und katholische Gottesdienste, "Gesellige Abende" zum Mitsingen und Rätselraten, musikwissenschaftliche Vorträge sowie selbstverständlich – meist im Anschluss – die pädagogische Weiterarbeit des "Arbeitskreises".
Und schließlich war das neu erwachte Interesse an alten Instrumenten, ihr Nachbau und ihre Handhabung, die Wiederentdeckung der alten originalen Klänge, der dritte Teil des damaligen Konzeptes der KASSELER MUSIKTAGE, die von 1933 über vierzig Jahre lang vom Musikwissenschaftler und engen Vertrauten Vötterles, Richard Baum, geleitet wurden.
In den folgenden "tausend Jahren" konnten die KASSELER MUSIKTAGE ihrer Vereinnahmung durch die Nazis nicht entgehen, aber sie schafften die heikle Gratwanderung zwischen Unterwerfung und Selbstbestimmung insbesondere durch die Schirmherrschaft des von den Regimegranden wenig geschätzten, aber unanfechtbaren Oberpräsidenten der Provinz Hessen-Nassau, Prinz Philipp von Hessen.
Der Kriegsbeginn stoppte das ganze Unternehmen. 1943 wollte der AfH die MUSIKTAGE erstmals seit 1939 wieder durchführen. Der verheerendste alliierte Luftangriff auf Kassel am 22. Oktober jedoch verbrannte den Plan im wörtlichen Sinne.
Neubeginn und Neubestimmung(en)
1950 konnte der "Arbeitskreis für Hausmusik", ab 1952 "Arbeitskreis für Haus- und Jugendmusik", die KASSELER MUSIKTAGE wieder erstehen lassen, "mit Unterstützung des Hessischen Ministers für Erziehung und Volksbildung und des Magistrats der Stadt Kassel". Programmatisch leise und unspektakulär war der Beginn: Zur Eröffnung erklang Gambenmusik, gespielt vom unvergessenen August Wenzinger. Von den ehemaligen Veranstaltungsorten stand nur die Stadthalle für den "Geselligen Abend" noch zur Verfügung. Ständehaus, Amerikahaus (Gebäude der heutigen Murhardschen Bibliothek). Bärenreiter-Verlagsräume und andere boten Ersatz, so auch die Friedenskirche, wo statt in der zerstörten Martinskirche die "Geistlichen Konzerte" und "Abendmusiken" zu Hause waren, bis diese 1958 wiederaufgebaut war.
Das Programmkonzept blieb über viele Jahre im Prinzip weiter bestehen. Kirchenmusik und Gottesdienst waren wieder in ihre alten Rechte eingesetzt, Hausmusik weiterhin ein großes Anliegen, aber der Blick weitete sich. Der Hessische Rundfunk und sein Sinfonieorchester wurden ab 1955 zu wichtigen Teilnehmern. Ab 1977 sendete der hr regelmäßig Aufzeichnungen der KASSELER MUSIKTAGE, seit 1994 ist er offizieller Mitveranstalter. Auch das Orchester des Staatstheathers beteiligte sich ab Mitte der 50er jedes Jahr mit einem Konzert. Das Staatstheater selbst brachte ab 1954, erst noch im kleinen Rahmen, eine weitere, publikumswirksame Dimension buchstäblich "ins Spiel": Im Blauen Saal der Stadthalle inszenierte Hans Hartleb Händels "Deidamia". Gipfel der Zusammenarbeit waren Bernd Alois Zimmermanns "Soldaten" bei den 25. KASSELER MUSIKTAGEN 1968.
Die ständig wachsende Bedeutung unter den europäischen Musikfestivals bekamen die KASSELER MUSIKTAGE in der sorgfältigen Auswahl ihrer Interpreten, neben Wenzinger später Helmuth Rilling, Marinus Voorberg, Hans Martin Linde, Alfred Deller, Wolfgang Gönnenwein, ensemble modern und "die reihe" und viele andere. Dabei wurde immer auch auf die Balance zwischen auswärtigen und regionalen Interpreten geachtet.
Neben dem Staatsorchester war der 1993 verstorbene Kirchenmusikdirektor und Kantor an St. Martin, Klaus Martin Ziegler, mit seiner Kantorei und dem von ihm 1965 gegründeten Vocalensemble Kassel eine feste Größe unter den Interpreten. Unvergessen auch die – geistig wie praktisch – unermüdliche Teilnahme des Cembalisten und Pianisten Franzpeter Goebels in Alter wie Neuer Musik.
Ziegler war aber nicht nur Ausführender, er war auch einer der programmatisch führenden Köpfe der KASSELER MUSIKTAGE in ihrem Engagement für Neue Musik. Die von ihm gegründete Biennale "Woche für geistliche Musik " fusionierte 1977 als "neue musik in der kirche" mit den KMT. Seither war Ziegler bis zu seinem Tod 1993 mitverantwortlich am Gesamtprogramm.
Das offenbart im Übrigen jedes Jahr deutlicher die andere Seite des Erfolgsrezepts der MUSIKTAGE: der beständige Drang des Festivals, sich immer wieder selbst neu zu erfinden. Beispielsweise kam das am Anfang streng verpönte 19. Jahrhundert zu seinem Recht, Neue Musik und Klassische Moderne jenseits der Kirche wurden immer wieder aufregende Mittelpunkte, die Zahl der Uraufführungen und Auftragswerke nahm zu. Im Gegenzug wich der ursprüngliche "Mitmach"-Gedanke in den Sechzigern einer "Mitdenk"-Konzeption. Einführungen und begleitende Symposien wurden zu einem neuen Markenzeichen. Bedeutende Wissenschaftler diskutierten in Symposien regelmäßig Themen wie "Alte Musik in unserer Zeit", "Neue Musik in unserer Zeit" oder "Wegbereiter der Moderne". Diese Idee der begleitenden Tagung wird schließlich bestimmend für das Gesamtprogramm: Ab 1970 bekamen die KASSELER MUSIKTAGE jedes Jahr ein Generalthema: "Wegbereiter neuer Musik in drei Epochen" hieß das erste. Richard Baums letzte Programmplanung widmete sich "Bach 1975. Rezeption und Interpretation im 20. Jahrhundert".
1976 übernahm Wolfgang Rehm, ab 1977 zusammen mit Ziegler, die Leitung der KASSELER MUSIKTAGE. In diesem Jahr sorgten die beiden für einen der aufsehenerregendsten "Jahrgänge" der KASSELER MUSIKTAGE in der Zusammenarbeit mit Manfred Schneckenburgers heute noch legendärer documenta VI. 1991 setzte der hr-Musikchef Leo Karl Gerhartz als Nachfolger Rehms bis 2003 wiederum neue "dramaturgische" Akzente mit Mendelssohn und Satie in zwei aufeinanderfolgenden Jahren. Mehr Kontrast geht nicht.
Diese konstruktive Art der Überraschung, einerseits nie so zu sein wie erwartet und andererseits seismographisch auf die großen musikalischen Fragen der jeweiligen Gegenwart zu reagieren, hatte Baum in seinen späteren Programmplanungen schon behutsam entwickelt. Von Rehm, Ziegler und Gerhartz wurde sie definitiv zur eigentlichen Maxime der KASSELER MUSIKTAGE erhoben. Um ihren eigenen höchsten Ansprüchen genügen zu können, gaben sich die MUSIKTAGE 1979 einen Programmausschuss, der als Team des künstlerischen Leiters in den folgenden Jahren die Arbeit des AfH (heute „iam“: Internationaler Arbeitskreis für Musik) ganz übernommen hat. In einem kurzen Leitungs-Intermezzo 2004/05 führte Freimut Richter-Hansen, Ex-Intendant der Düsseldorfer Symphoniker, die Geschicke. Von 2006 bis 2015 hatte Dieter Rexroth die künstlerische Veranstwortung für das Kasseler Musikfestival.
Ein Neubeginn musste deutlich erkennbar, die MUSIKTAGE „sichtbarer“ werden und viele kunst- und musikinteressierte Menschen anziehen, auch die, welche sie bisher noch nicht wahrgenommen hatten. Um das nicht nur inhaltlich, sondern auch rein äußerlich zu erreichen, legte Dieter Rexroth die gesamte Programmstruktur von den wenigen Tagen bisher auf zwei bis drei Wochen aus - eine so logische wie anstrengende Maßnahme. Verbunden war sie mit einem enormen Mehraufwand an programmatischer und organisatorischer Arbeit, bot aber eben auch Raum für ein vielgestaltiges Programm für ein vielschichtig interessiertes Publikum.
2013 rief Dieter Rexroth den Kreativwettbewerb der KASSELER MUSIKTAGE mit Schulen aus ganz Nordhessen ins Leben, um Schülerinnen und Schüler mit Gruppenbeiträgen an die Musik heranzuführen. Nach 150 jugendlichen Teilnehmern damals machten 2015, im dritten Jahr, 250 mit. In seinen zehn Jahren künstlerischer Leitung der KASSELER MUSIKTAGE hat Dieter Rexroth die Möglichkeiten, die das Festival ihm bot, genutzt und in seiner beharrlichen Gleichgewichtung von Klassik und Moderne jedem Besucher, jedem Mitwirkenden Wege aufgezeigt, als kulturelle Existenz „im Spannungsfeld von Herkunft und Zukunft“ aktiv zu werden.
In fünfundsiebzig Jahren haben die KASSELER MUSIKTAGE einen weiten Weg und die verschiedensten Entwicklungen hinter sich gebracht. Dass sie bis heute erfolgreich bestehen, mag gerade ob ihrer beharrlichen Forderung eines aktiven und unstillbar neugierigen Publikums vordergründig überraschen. Aber sie haben bewiesen, dass diese Zuhörerschaft existiert und teilnehmen will an den unendlichen geistigen und emotionalen Abenteuern der Musik.
1982 haben sich die KASSELER MUSIKTAGE zum eingetragenen Verein umstrukturiert, dem heute u.a. das Hessische Ministerium für Kunst und Wissenschaften, der Hessische Rundfunk, die Stadt Kassel, die Kasseler Sparkasse, der Evangelische Stadtkirchenkreis Kassel, die Evangelische Akademie Hofgeismar, die Universität Kassel, der Internationale Arbeitskreis für Musik, das Staatstheater Kassel, sowie die Musikverlage Bärenreiter-Verlag, Merseburger, Furore und die Alkor-Edition angehören.
Martin Griesemer